Chaldäische Orakel

Das Chaldäische Orakel ist ein antikes religiöses Lehrgedicht in griechischer Sprache. Es behandelt die Kosmologie und die Seelenlehre unter dem Gesichtspunkt einer angestrebten Erlösung und gibt Verhaltensregeln und Anweisungen für die Theurgie (höhere Magie), mit der diese Erlösung erlangt werden soll. Als Verfasser der Orakel gilt traditionell Julian le Théurge. Er soll zusammen mit seinem Vater Julian le Chaldéen im 2. Jahrhundert um 170 gelebt und mit ihm bei der Aufzeichnung der Offenbarungen zusammengewirkt haben soll. Die Orakelsprüche werden verschiedenen Göttern zugeschrieben. Sie sind Antworten der Götter auf Fragen von Menschen, doch sind die Fragen nicht überliefert. Julian lebte zur Zeit des Kaisers Marcus Antonius (Mark Aurel). Der römische Geschichtsschreiber Cassius Dio überliefert in seiner "Römischen Geschichte", dass Julian in seiner Tätigkeit als Theurg ein Regenwunder bewirkt haben soll. Es ereignete sich während eines Feldzugs Mark Aurels. Die Römer wurden an einem Ort ohne Wasser von den Feinden eingeschlossen und waren am Verdursten, als ein plötzlich auftretendes Gewitter die Rettung brachte. Die chaldäischen Orakel enthalten zahlreiche philosophische Spekulationen, in der platonische Lehren mit pythagoreisch-orphischen und stoischen (Stoa) Erörterungen durchsetzt sind.

In seinem Werk über die Orakel beschreibt der byzantinische Schriftsteller und Philosoph Michel Psellos eine spätantike Sage, die er selbst aber für Unsinn hält, dass  Julien der Chaldäer versucht hätte, seinen Sohn, Julien der Theurg dazu zu bringen, die Seele von Platon zu erreichen, um diese zu befragen. Die chaldäischen Orakel wären insofern eine Transposition (Verschlüsselung) von Platons Timaios, und die Orakel wären die Antworten von Platons Seele auf die Seele von Julien der Theurg. Der Überlieferung zufolge wurden die Orakel jedoch von der göttlichen Trias (Dreiheit) offenbart. Julian der Theurg empfing die Chaldäischen Orakel als göttliche Offenbarungen und zeichnete diese auf. So wird es berichtet in der Suda, einer byzantinischen Enzyklopädie des 10. Jahrhunderts. Die Trias besteht aus dem „Vater“, dem obersten Prinzip, das als Feuer charakterisiert wird. Die beiden anderen Bestandteile der Trias sind die Kraft und der Intellekt. Beide sind dem Vater untergeordnet, bilden aber gewissermaßen eine Einheit mit ihm. Auf die Trias ist die hierarchisch aufgebaute Weltordnung zurückzuführen. Der Vater hat sich der Weltordnung jedoch entzogen, das heißt, sich aus seiner ursprünglichen Einheit mit der Kraft und dem Intellekt gelöst. Erst dieser Trennungsakt hat es ermöglicht, dass neben der undifferenzierten göttlichen Einheit auch Verschiedenheit und damit eine mannigfaltige Welt existiert. Der Vater ist nach der Lehre der Orakel aber nicht selbst als Weltschöpfer tätig, sondern diese Aufgabe übernimmt der Intellekt als Demiurg, ein Schöpfergott, der nicht mit dem obersten Prinzip identisch, sondern niedrigeren Ranges ist.


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