Der Seevölkersturm

Zwei große Rätsel aus der Bronzezeit beschäftigen die Historiker und Archäologen bis heute. Zum einen ist das Troja und der Trojanische Krieg.  Im 12. Jahrhundert v. Chr. zogen die Mykener mit einem gigantischen Heer gegen Troja. 100 000 Mann, darunter ihr König Agamemnon und Achilles, sowie 1200 Schiffe. Trotz zehnjähriger Belagerung gelang es jedoch nicht, die stark befestigte Stadt zu erobern. Auf Rat des Odysseus bauten die Griechen schließlich ein großes hölzernes Pferd, in dem sich die tapfersten Krieger versteckten, und täuschten die Abfahrt ihrer Schiffe vor. Die Trojaner holten entgegen den Warnungen der Seherin Kassandra und des Priesters Laokoon das Pferd in die Stadt. In der Nacht kletterten die Griechen aus ihrem Versteck, öffneten die Tore und konnten so die Trojaner überwältigen. So entstand die Legende vom Trojanischen Pferd. So berichtet es zumindest der antike Dichter Homer in seiner Illias. Die Stadt Troja lag den Angaben in der Ilias zufolge bei den Dardanellen, einer zur Türkei gehörenden Meerenge im Mittelmeer zwischen dem Ägäischen Meer und dem Marmarameer. Anhand der teils sehr exakten Beschreibung der landschaftlichen Lage der Stadt durch Homer und nachfolgende antike Schriftsteller gelangte der deutsche Hobbyarchäologe Heinrich Schliemann, zu der Überzeugung, dass unter dem Hügel namens Hisarlık Tepe in der Troas im nordwestlichen Teil Kleinasiens die Reste der Stadt Troja lägen. 1871 begann Schliemann mit Ausgrabungen und zwei Jahre später im Jahr 1873 erklärte er der Öffentlichkeit, die Ruinen des bronzezeitlichen Trojas gefunden zu haben. 

Lange wurde in der Fachwelt darüber gestritten, ob es sich bei der von Schliemann ausgegrabenen Stätte tatsächlich um Troja handelt. Heute gehen die Wissenschaftler mehrheitlich davon aus, dass der Siedlungshügel Hisarlık an der südwestlichen Einfahrt der Dardanellen tatsächlich mit dem von Homer besungenen Troja übereinstimmt.  Strittig ist auch die Historizität des Trojanischen Kriegs, den Homer in der Ilias beschreibt. Sicher ist, dass die Siedlung kurz nach 1200 v. Chr. zerstört wurde. Aber von wem? Sowohl die Hethiter als auch die Mykener versuchten damals ihren Einflussbereich in den westkleinasiatischen Küstenregionen auszudehnen. Doch es gibt keine Nachweise, dass eine dieser Hochkulturen Troja zerstört hat.

 

Das zweite Rätsel ist der sogenannte "Seevölkersturm". Bis heute wusste niemand genau zu sagen, wer diese Seevölker waren, die vor 3200 Jahren die Hochkulturen am Mittelmeer zerstörten. Auf dem Gebiet der heutigen griechischen Halbinsel Peloponnes herrschten die Mykener. Dazu kam das Reich der Minoer auf Kreta, das von Knossos aus regiert wurde. Dann die Kykladenkultur, mit ihren Machtzentren Grotta (Naxos), Phylakopi, Keros und Syros.  Um diese Völker herum gruppierten sich zwei weitere Weltmächte: Die alten Ägypter am Nil und weiter im Osten, im heutigen Anatolien, das Reich der Hethiter mit ihrer Hauptstadt Hattuša. Vor etwa 3200 Jahren zerstörten rätselhafte Seevölker die Hochkulturen am Mittelmeer. Wie aus dem Nichts überfielen sie die ägäischen Städte und rissen die bronzezeitlichen Hochkulturen in den Untergang. Danach verschwanden sie wieder so urplötzlich, wie sie gekommen waren. Das Reich der Hethiter zerfiel, der minoische Palast von Knossos wurde zerstört, ebenso die Machtzentren der Mykener. Selbst die militärisch gut organisierte Streitmacht der Ägypter, namentlich die Soldaten des Pharaos Ramses III., konnten den Angreifern aus dem Norden nur mit Mühe und Not standhalten. Dem Untergang der Hochkulturen gegen 1200 v. Chr. folgte eine dunkle Zeit, die vier Jahrhunderte andauerte.

Wer waren diese damals so gefürchteten Seevölker? Ein fast 30 Meter langes Band von Hieroglyphen könnte jetzt den entscheidenden Hinweis zur Lösung dieses Jahrhunderträtsels der Bronzezeit liefern. Die Hieroglyphen sind in Luwisch verfasst, einer Sprache, die in der Bronzezeit in Kleinasien gesprochen wurde – und die heute nur noch von sehr wenigen Wissenschaftlern entziffert werden kann. Auch über die Kultur und das Volk der Luwier ist heute nur wenig bekannt. Die Luwier lebten in der Bronzezeit in Westkleinasien. Der luwische Kulturkreis wurde bisher in der Ägäischen Frühgeschichte wenig bzw. überhaupt nicht berücksichtigt. Um 1200 v. Chr. löste das Volk der Luwier einen großen Krieg in der Ägäis aus. Der Konflikt steht mit der Zerstörung Trojas in Zusammenhang. Die gefundenen Hieroglyphen zierten einst eine Ruine in Beyköy in der heutigen Türkei und waren im Jahr 1878 wohl von einem Archäologen kopiert worden. Danach waren sie für lange Zeit verschollen. Erst im Jahr 2017 übergab ein Sohn des englischen Archäologen James Mellaart, der die Kopien besessen hatte, diese an den Geoarchäologen Eberhard Zangger von der Stiftung Luwian Studies. Zangger erforscht seit 1994 die luwische Kultur in Westkleinasien im 2. Jahrtausend v. Chr. Ihm gelang es, die Hieroglyphen zu entziffern. Sie deuten darauf hin, dass die Luwier, die damals so gefürchteten Seevölker gewesen sein könnten.

Sie scheinen auch zu belegen, dass gleich drei Konflikte zum Niedergang der großen Hochkulturen führte. Den Beginn machten demnach die Seevölker-Invasionen der Luwier. Dem folgte einige Jahre später ein Gegenangriff, bei dem die Mykener die Reiche Kleinasiens angriffen – dies könnte dem von Homer überlieferten Trojanischen Krieg entsprechen. Zuletzt lösten diese Kriege dann interne Unruhen in Mykene aus, die das Reich schließlich zerfallen ließen. Wenn das westliche Kleinasien und seine Bevölkerung in der Ägäischen Frühgeschichte stärker beachtet werden, wird es vielleicht möglich, eine plausible Erklärung für den Zusammenbruch der bronzezeitlichen Kulturen rund um das östliche Mittelmeer zu entwickeln. Die Luwier sind womöglich der Schlüssel zu den beiden größten Rätseln der Bronzezeit.

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