Vorherbestimmung oder Zufall?

Ist alles vorherbestimmt? Die Philosophie beschäftigt sich schon lange mit der Frage, ob unsere Weltordnung und das Weltgeschehen deterministisch (also kausal eindeutig vorherbestimmt) oder zufällig ist.


Zumindest in der Welt der Quantenphysik sind einzelne Ereignisse grundsätzlich nicht mehr präzise vorhersagbar (nicht mehr deterministisch). Sie treten nur noch mit einer bestimmten, aber immerhin mit einer berechenbaren Wahrscheinlichkeit ein. Ein Beispiel ist der radioaktive Zerfall. Es ist bekannt, dass ein radioaktives Teilchen irgendwann zerfallen wird, und es kann die Wahrscheinlichkeit angegeben werden, mit der es beispielsweise innerhalb der nächsten zehn Minuten zerfällt. Der tatsächliche (konkrete) Zerfall wird jedoch zu einem bestimmten Zeitpunkt auftreten, und es gibt keinerlei Möglichkeit, diesen Zerfall vorauszusagen. Die Quantenphysik sagt, dass es für den Zeitpunkt des einzelnen Zerfalls keinerlei Grund gibt, nicht einmal einen verborgenen. Die Wissenschaft nennt das den objektiven Zufall. Der Zufall tritt deshalb auf, weil kein objektiver Grund vorhanden ist. Also keine (lokalen) Ursachen existieren. Dieser quantenmechanische Zufall ist aber nicht gleichbedeutend mit Regellosigkeit. Auch wenn die einzelnen Messergebnisse nicht vorhersagbar sind, so sind die Wahrscheinlichkeiten ihres Eintretens durch die quantenmechanischen Gesetzmäßigkeiten dennoch streng determiniert. Es gibt verschiedene Bedeutungen des Zufallsbegriffs:


  • Wenn ein Ereignis objektiv ohne Ursache geschieht, spricht man von einem objektiven Zufall (Indeterminismus). In unserer makroskopischen Welt ist dieser Fall bisher nicht beobachtet worden und dürfte prinzipiell auch nicht nachweisbar sein.


  • Ein Ereignis geschieht, ohne dass eine kausale Erklärung gefunden werden kann. Als kausale Erklärungen für Ereignisse kommen je nach Kontext eher Absichten handelnder Personen oder auch naturwissenschaftliche deterministische Abläufe infrage.


  • Ein Ereignis geschieht, bei dem man zwar die Einflussfaktoren kennt, sie aber nicht messen oder steuern kann, sodass das Ergebnis nicht vorhersehbar ist.


  • Zwei Ereignisse stehen in keinem (bekannten) kausalen Zusammenhang.


Eine ganz andere Richtung verfolgt die Chaosforschung. Diese untersucht deterministisch chaotische Systeme; das sind Systeme, die sich aber aufgrund ihrer großen Komplexität für den Menschen momentan unvorhersagbar verhalten. Die Chaostheorie befasst sich nicht mit Systemen, die dem Zufall unterliegen (also stochastischen Systemen), sondern mit dynamischen Systemen, die mathematisch beschreibbar sind, deren zeitliche Entwicklung aber unvorhersagbar erscheint, obwohl die zugrundeliegenden Faktoren eigentlich deterministisch sind, bzw. die Systeme sich prinzipiell deterministisch (festgelegt) verhalten. Dieses Verhalten wird als deterministisches Chaos bezeichnet. Chaotische, dynamische Systeme sind nicht linear. Sie weisen eine Reihe von Phänomenen auf, die man chaotisches Verhalten nennt. Eines dieser Phänomene ist der Schmetterlingseffekt. Dieses Phänomen tritt in nicht linearen, dynamischen, deterministischen Systemen auf und äußert sich dadurch, dass nicht vorhersehbar ist, wie sich beliebig kleine Änderungen der Anfangsbedingungen eines Systems langfristig auf die Entwicklung des Systems auswirken. Er geht zurück auf den amerikanischen Meteorologen Edward N. Lorenz, dessen berühmter Ausspruch „Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?“ diesen Effekt veranschaulichen soll. Den meisten Vorgängen in der Natur liegen solche nicht lineare Prozesse zugrunde. Es gibt eine Vielzahl von chaotischen Systemen, insbesondere das Wetter, Klima, Erosion oder die Plattentektonik. Die Zuverlässigkeit der Wettervorhersage ist nach heutigem Wissensstand durch die grobe Kenntnis des Ausgangszustandes begrenzt. Doch auch bei vollständiger Information würde eine langfristige Wettervorhersage letztlich am chaotischen Charakter des meteorologischen Geschehens scheitern. Die Stabilität des Wetters kann stark schwanken. So sind bei bestimmten Wetterlagen Vorhersagen für eine Woche durchaus möglich, bei anderen dagegen kaum für 24 Stunden. Als eine prinzipielle obere Schranke für die Wettervorhersage wird aber von maximal zwei Wochen ausgegangen.


Ein weiteres Beispiel nicht linearer Prozesse in der Natur ist das Dreikörperproblem. Wenn mehr als zwei Himmelskörper gravitativ aneinander gebunden sind, können minimale Änderungen der Ausgangssituation im Laufe der Zeit zu großen, nicht vorhersagbaren Änderungen der Bahnen und Positionen führen.  Die Chaostheorie ist abzugrenzen von der Theorie der komplexen Systeme, da auch sehr einfache Systeme chaotisches Verhalten zeigen können. Komplexe Systeme lassen sich in praktisch allen Fachgebieten der Wissenschaften abgrenzen. Dazu gehören etwa das Klimasystem der Erde, das Leben, Ökosysteme, Gehirne, Quantensysteme, Menschliche Gesellschaften, Wirtschaftssysteme, Finanzmärkte, multinationale Konzerne, Infrastrukturnetze und das Internet. Das Erdklima ist dabei eines der am besten untersuchten komplexen natürlichen Systeme. Der Gefahr der Unordnung und Desorganisation (= Entropie) begegnet das System durch zunehmende Kontroll- und Schutzfunktionen (Stabilität), die vor allem auf Rückkopplung von Prozessen beruhen (Prozessualität). Je komplexer Systeme werden, desto größer werden ihre Reaktionsmöglichkeiten, desto eher können gänzlich neue Systemeigenschaften entstehen (Emergenz) und desto selbstständiger werden sie. Lebende Systeme schaffen, erhalten und organisieren sich selbst (Autopoiesis).


Ein Beispiel:  Beim Schmelzen von Eis wird die geordnete Eiskristallstruktur in eine ungeordnete Bewegung einzelner Wassermoleküle überführt: Die Entropie des Wassers im Eiswürfel nimmt dabei zu.


Welche Prozesse z. B. die Evolution vorantreiben, beschäftigt die Wissenschaft schon seit Jahrzehnten. War die Hominisation (Menschwerdung) kausal oder zufällig?  Der britische Naturforscher Charles Darwin (1809–1882), Begründer der modernen Evolutionsbiologie kam zu dem Schluss, dass sich die Arten durch natürliche Auslese entwickeln: Gut an ihre Umgebung angepasste Organismen überleben, andere nicht. Der japanische Genetiker Motoo Kimura (1924–1994) hingegen schlug eine andere Entstehung der Artenvielfalt vor: den Zufall. Demnach bieten die meisten genetischen Veränderungen dem Individuum keine direkten Vor- oder Nachteile, sondern sind neutral. Laut seiner 1968 veröffentlichten „Neutrale[n] Theorie der molekularen Evolution“ entsteht der größte Teil der genetischen Variation innerhalb und zwischen den Arten durch zufällige Fluktuationen neutraler Mutationen. Manche Genveränderungen haben für ihre Träger einen Vorteil, bleiben daher erhalten und treiben die Evolution voran, andere nicht.  Im Grunde gibt es aber keine Darwin-Gegner in der Evolutionsbiologie. Kimura-Anhänger lehnen Darwins Idee der Evolution durch Selektion nicht gänzlich ab.


Die Menschwerdung beruht vermutlich auf drei Schlüsselereignissen:


  • Erwerb des aufrechten Gangs
  • Größen- und Funktionswachstum des Gehirns
  • Übergang zur kulturellen Evolution


Der ausschlaggebende Grund z. B. für den aufrechten Gang beruht wahrscheinlich auf natürlicher Auslese beruhen. Die natürlichen Bedingungen änderten sich und dadurch mussten sich die Menschenaffen an neue Lebensräume und neue Herausforderungen anpassen. Die Affen waren gezwungen, sich an das Leben im Flachland anzupassen. Kimura-Anhänger stellen zum Beispiel auch nicht in Frage, dass Giraffen ihre Flecken im Fell durch natürliche Auslese erhalten haben. Sie plädieren lediglich für Neutralität, wenn es um feinere Unterschiede geht, wie etwa die Form und Größe der Flecken, die die verschiedenen Giraffenarten und -unterarten kennzeichnen“,


Die neurowissenschaftliche Forschung der letzten 20 Jahren hat gezeigt, dass das menschliche Gehirn in funktionellen Netzwerken organisiert ist. Spontane Hirnaktivität weist ein hohes Maß an Unregelmäßigkeit (Entropie) auf, was sich als hohe Komplexität darstellt. Dieser „Normalzustand“ wird jedoch immer wieder durch spontane Episoden niedriger Komplexität unterbrochen, in denen die Hirnaktivität für einen kurzen Moment sehr regelmäßig wird. Das menschliche Gehirn tendiert dazu, knapp unterhalb eines Zustandes der Kritikalität zu arbeiten. Kritikalität ist ein Zustand komplexen Verhaltens in einem System zwischen absoluter Ordnung und reinen Zufallszuständen. Das  Gehirn des Menschen ist gerade geordnet genug, um die Dinge zu tun, die der Mensch regelmäßig braucht (kurz Gewohnheiten), und gleichzeitig flexibel genug, um die Realität zu testen. Das heißt, der Verstand (oder auch Geist) behält seine Reaktionsfähigkeit auf neue, ungewohnte Situationen durch Rückmeldungen von der Außenwelt bei.

Eine Erhöhung der Hirnentropie des Menschen könnte dazu beitragen, neue Bewusstseinszustände zu bilden. Koffein z. B. erhöht die Entropie im Gehirn in einem geringeren Ausmaß. Das bedeutet, das Gehirn kann mehr Informationen verarbeiten und die Aufmerksamkeit der Person steigert sich. Im Gegensatz dazu werden Drogen, wie beispielsweise Alkohol und Nikotin, die Hirnentropie eher senken. Die Bewusstseinszustände des Menschen ändern sich je nach der Gesamtstruktur des Gehirns, genauso wie Materie weniger oder mehr geordnet wird, wenn sich ihr Zustand ändert. Eine neuere Theorie besagt, dass Entropie der Ursprung des menschlichen Bewusstseins sein könnte.



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